DR. MED. GÖTZ BLOME
Urvertrauen
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Wir Menschen sind (wahrscheinlich) vor allen anderen Geschöpfen privilegiert, denn wir besitzen die Gabe, bewusst in die Zukunft denken zu können. Dieses Privileg hat Vor- und Nachteile. Einerseits besitzen wir dadurch eine ins Unendliche reichende geistige Perspektive, die uns über das momentan Seiende hinaus auch künftig Werdendes erkennen lässt, andererseits aber verlieren wir angesichts der unbegrenzten Möglichkeiten der vor uns liegenden Zukunft, die positiv oder negativ sein können, unsere beruhigende, auf der überschaubaren Gegenwart gegründete Sicherheit. Wir sehen uns in eine Welt ausgesetzt, die wir nicht wirklich verstehen und beherrschen können, und das macht uns Angst.
Daher werden wir unter bestimmten Umständen von einer unklaren, nicht real begründeten Angst vor irgendwelchem Unheil gequält. Wir fürchten, dass uns etwas Schlimmes begegnen könnte, zum Beispiel eine schwere Krankheit, ein Unfall oder ein Verlust, oder wir fühlen uns ausweglos verlassen und verloren. Dies passiert, wenn unser Vertrauen in das Schicksal und unsere Hoffnungsfähigkeit zu schwinden beginnen. Würden wir sie ganz verlieren, wäre das unser Ende. Tatsächlich aber erinnert das Sprichwort „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ daran, dass es etwas gibt, das uns wie ein Licht Mut und Zuversicht für unseren Weg in die undurchdringliche Dunkelheit der Zukunft gibt. Würden wir nicht ständig hoffen oder darauf vertrauen, dass letztlich doch alles gut ausgeht und wir Glück oder Erfolg haben werden, könnten wir nicht überleben. Der Kranke hofft auf die baldige Genesung, der Gefangene auf die Befreiung, der Bedrohte auf die Rettung und der Spieler auf den großen Gewinn.
Die Hoffnung ist wie das Netz des Seiltänzers, das ihm die Gewissheit gibt, bei einem Fehltritt nicht in die Tiefe zu stürzen. Sie hat unterschiedliche Erscheinungsformen. Einerseits bezieht sie sich oft auf unwichtige und oberflächliche Wünsche, wie: „Hoffentlich wird das Wetter gut“. Andererseits aber hilft sie uns, die großen Schicksalskrisen, in denen es um „Sein oder Nicht-Sein“ geht, zu überstehen. Dann verwandelt sie sich in jenes tiefe Urvertrauen, das uns trotz allen Gefahren und scheinbarer Ausweglosigkeit eine gewisse Sicherheit gibt und uns vor dem ultimativen Absturz bewahrt.
Denn die Hoffnung wie auch das Urvertrauen sind Ausdruck unseres tiefen Wissens, dass es in dieser Welt trotz allem Negativen das Gute, Schöne und Erfreuliche gibt und dass auch wir daran in irgendeiner Form teilhaben dürfen. Die Erwartung, dass sich alles so entwickeln werde, wie wir es uns wünschen, mobilisiert unsere Lebenskräfte, weckt unsere Kreativität und erfüllt uns mit Lebensfreude.
Dieses Urvertrauen, das von den Religionen auch als Glaube bezeichnet wird, zu pflegen, ist daher existenziell wichtig. Im neuen Testament heißt es: „Glaube aber ist: Feststehen in dem, was man erhofft, überzeugt sein von Dingen, die man nicht sieht“. Der eine Mensch gibt sich ihm unbewusst und instinktiv hin und verbringt sein Leben in unreflektiertem Optimismus, ein anderer muss sich dagegen immer wieder bewusst mit der Lebenswirklichkeit auseinandersetzen, um zur Gewissheit zu finden, dass letztlich alles, was in dieser Welt und mit uns geschieht, richtig und „gut“ ist. Denn tatsächlich manifestiert sich ja in ihm jene höhere oder „göttliche“ Intelligenz, die uns und diese Welt geschaffen hat und ständig neu erschafft.
Thema von Floriplex Nr.6