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Eigenes Wohlergehen

Mitleid zu haben, gilt üblicherweise als hohe menschliche Tugend, weil es Achtsamkeit und Hilfsbereitschaft bedeutet. Und das Gefühl, von mitfühlenden Menschen im Unglück nicht allein gelassen zu werden, ist sehr wichtig für uns. Über diesen positiven Aspekten des Mitleids vergisst man jedoch oft, dass es auch eine negative Seite hat. Diese ergibt sich aus dem Begriff selbst, in dem sich das Wort „Leid“ findet.

Der moralische Sinn des Mitleids liegt darin, dass man jemandem hilft, sein Leiden zu überwinden, indem man daran persönlich Anteil nimmt. Diese an sich begrüßenswerte Einstellung hat aber den entscheidenden Fehler, dass man nicht mehr effektiv und frei helfen kann, weil man ja jetzt selbst leidend und hilfebedürftig, ist. Diesen negativen Effekt wagen wir uns allerdings meist nicht einzugestehen, weil wir von klein auf moralisch zum Mitleid verpflichtet wurden. Deswegen erkennen wir auch nicht, dass es hier in Wirklichkeit um etwas anderes geht, nämlich um Mitgefühl.

Mitgefühl bedeutet, dass wir bereit sind, unsere Mitmenschen fühlend wahr- und anzunehmen und ihnen, wenn nötig aus ihren Problemen oder Leiden heraus zu helfen – allerdings, ohne uns selbst davon anstecken zu lassen. Dabei müssen wir jedoch immer bedenken, dass wir uns nicht wirklich in einen anderen Menschen hineinversetzen können und dass deshalb immer die Gefahr besteht, dass wir nur unsere eigene Gefühlswelt auf ihn projizieren. Im Umgang mit leidenden Menschen ist also neben dem Mitgefühl eine gewisse Selbstdisziplin und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber erforderlich.

Das gilt vor allem für jene Menschen, die von so starkem Mitleid mit anderen Menschen beherrscht werden, dass sie,  weil jetzt selbst leidend, unfähig werden, vernünftig und selbstbezogen zu denken und zu handeln - abgesehen davon, dass sie auch keine Lebensfreude mehr empfinden und an ihr eigenes Wohl denken können. Dieses Dilemma wird meist dadurch verstärkt, dass sie aufgrund übertriebener und unbegründeter Schuldgefühle die natürliche Sorge für das eigene Wohlergehen für verwerflichen und unerlaubten Egoismus halten. So fühlen sie sich dauernd zwanghaft von tatsächlich oder vermutlich leidenden Menschen (oder anderen Kreaturen) angezogen und „belästigen“ andere oft ungebeten durch ihre Hilfe oder opfern sich selbst ungefragt für sie auf.

Ein solches Verhalten ist zwar menschlich wertvoll, zugleich aber auch problematisch, weil ihm das richtige Maß fehlt. Wer sich zu viele Sorgen um andere macht, kann sich nicht mehr um das eigene Wohlergehen kümmern, das genauso wichtig ist, und wird dadurch schließlich unfähig, wirkliche Hilfe zu leisten. Und wer sich ungebeten oder übertrieben helfend oder sorgend in das Leben anderer drängt, tut ihnen letztlich nichts Gutes, weil dadurch ihre Eigeninitiative und Kreativität behindert werden.

Ein Sprichwort sagt: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“. Jeder Mensch kennt dieses beglückende Gefühl, wenn er sein Problem ohne fremde Hilfe und aus eigener Kraft gelöst hat. Es ist ein Ausdruck von Weisheit und persönlicher Integrität, mitzufühlen, ohne mitzuleiden, und zu helfen, ohne hilflos zu machen.

Thema von Floriplex Nr.5

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