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Loslassen

 

In unserer gegensätzlich angelegten Welt hat alles sein Gegenstück. Dem Leben steht der Tod, der Schönheit steht die Hässlichkeit, der Kraft die Schwäche, dem Licht die Dunkelheit, der Freude das Leid und dem Nehmen das Geben gegenüber. Das Geben ist in unserem Alltag, genau wie das Loslassen und das Sich-Ergeben, besonders wichtig.

Primär ist aber unser heutiges Leben auf Nehmen, Erobern, Verdienen, Besitzen, Festhalten und Verteidigen ausgerichtet. Bereits in der Schule lernen die Kinder, dass es im Leben auf Leistung und Anstrengung ankomme und Nichtstun verwerflich sei. Dabei wird aber übersehen, dass es gar nicht möglich ist, nichts zu tun. In jedem Augenblick tun wir irgendetwas: zum Beispiel atmen, uns bewegen, denken. Diejenigen, die das Nichtstun verdammen, meinen aber nur jene Aktivitäten, die keinen materiellen oder gesellschaftlichen Vorteil mit sich bringen. „Sich regen bringt Segen“, klingt in diesem Zusammenhang zwar gut, ist meist aber zu einseitig gemeint, denn in Wirklichkeit tut ja auch derjenige etwas, der sich nicht im Sinne der Aktivisten und Kämpfer regt. Eine solche einseitige Sichtweise führt natürlich auch zur Einseitigkeit im Leben der betreffenden Menschen, da sie ja zugleich bedeutet, dass ihnen die andere, passive Seite fehlt.

Menschen, die nur auf eine aktive, fordernde und festhaltende Lebensgestaltung ausgerichtet sind, bestehen gewissermaßen nur zur Hälfte, was nicht nur mit einer erkennbaren, erheblichen Reduktion ihres persönlichen Potentials einhergeht, sondern auch zu einer Verarmung ihrer Biographie führt. Im Umgang mit ihnen fühlt man, dass sie „nicht ganz da“, sondern Gefangene ihrer Ziele und Wünsche, ihrer Gier und Verbissenheit sind. Zwar kann in außergewöhnlichen Situationen die einseitige Konzentration auf eine bestimmte Aktion oder Lebenshaltung erforderlich und sinnvoll sein; sie muss aber immer eine Ausnahme bleiben. Denn ein normales Leben, in dem sich die ganze Fülle der menschlichen Möglichkeiten entfaltet, ist dabei nicht möglich.

Es ist schwierig, wenn wir uns in etwas verrannt haben, davon abzulassen, denn in diesem Zustand sind wir ja überzeugt, dass es nicht anders gehe. Manchmal ist dann eine Katastrophe („Umwendung“) unumgänglich, die alles durcheinanderwirft und sozusagen die Karten unseres Leben neu mischt. Sie ist gewissermaßen eine Rettungsmaßnahme unseres Schicksals, durch die wir von einem (für uns) falschen und verderblichen Irrweg abgebracht werden. Aber je weniger wir bereit sind, auch einmal aufzugeben oder nachzugeben, je stärker wir an unseren Zielen, Wünschen und Vorstellungen festhalten, desto gewalttätiger muss die Kehrtwendung sein, um uns vom bisherigen, falschen Weg abzubringen, desto mehr muss zerstört werden, damit wir wieder frei werden.

Also sei immer bereit, loszulassen, wenn du merkst, dass du die Grenze erreicht hast und die „katastrophale“ Befreiung,  zum Beispiel in Form einer Krankheit, naht.

 „Wo Leere ist, kommt Fülle“, heißt es im ZEN. Wenn wir „nichts“ tun, tut sich etwas. Wenn wir etwas hergeben, bekommen wir etwas anderes dafür. Wenn wir verzichten, werden wir frei für etwas Neues.

Thema von Floriplex Nr.18

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